Die Galleria Farnese und die Carracci

(zur Hauptseite der Exkursion Rom 2018)

von Hannah-Louisa Hochbaum

Die Exkursion nach Rom und meine Auseinandersetzung mit dem Deckenfresko der Gebrüder Carracci im Palazzo Farnese habe ich zum Anlass genommen, die unumstrittene Bedeutung der Bologneser Maler für die Entwicklung des italienischen Barocks zu erfassen. Im Folgenden möchte ich meine Erkenntnisse teilen und somit einen roten Faden offerieren, der vom kunsthistorischen Wirken der Familie Carracci bis hin zur Galleria Farnese reicht.

Accademia degli Incamminati

Die künstlerische Produktion der Renaissance ist stets von individuellen Persönlichkeiten geprägt gewesen, die im Zentrum ihrer Virtuosität stehend nicht bereit waren, die angewandten Techniken zu teilen, geschweige denn ihre Geheimnisse außerhalb des beschränkten Bereichs ihrer Werkstatt zu verbreiten. Diese Haltung entspricht der Ideologie der Renaissance, nach der jede künstlerische Manifestation spezifisch mit der Persönlichkeit, der Kultur und auch mit den technischen Fähigkeiten derjenigen, die sie konzipierten und verwirklichten, verbunden ist. Vor diesem Hintergrund erfährt die Familienhistorie der Carracci hinsichtlich der italienischen und europäischen Kunstgeschichte eine besondere Bedeutung.

1582 gründen der Bologneser Maler Ludovico Carracci, sein Cousin Agostino und dessen Bruder Annibale die erste private Schule für Malerei der neuen Zeitgeschichte. Anfänglich trug sie den Namen Accademia del Naturale, da ihre Schüler angehalten waren die Wahrheit mit ihrer Malerei zu reproduzieren, später wurde sie auch als Accademia dei Desiderosi (der Begehrenden) bezeichnet – auf die Begierde hinweisend, die die Lernenden beim malen in sich tragen – bis sie schließlich ihren endgültigen Namen Accademia degli Incamminati (Wanderschaft) erhielt, um den anspruchsvollen Weg der künstlerischen Reifung zu unterstreichen, zu dem jeder Schüler berufen wurde.

So sind die drei Carracci zwar geborene Bologneser, ihr stilistisches Profil jedoch ist vielfältig. Es verbindet sowohl die klassische Tradition von Raffael und Michelangelo mit dem venezianischen Farbspiel, während auch Ähnlichkeiten zu Correggio und vielen weiteren Künstlern der Emilia und Lombardei bestehen. Ihr Unterrichtsstil präfiguriert die moderne Kunstschule, in der neben der Praxis des Zeichnens und Kopierens dal vero, auch Platz für das Studium von Literatur, Philosophie,

Mathematik, Geometrie und Anatomie gegeben wird. Laut der Intentionen der Carracci, muss sich die Ausbildung eines Künstlers nicht nur auf einer praktischen Ebene entwickeln – also der einfache Erwerb notwendiger technischer Fähigkeiten – sondern auch auf einer theoretischen Ebene, die ein möglichst breites, heterogenes kulturelles Wissen hervorbringen soll.

Die drei Künstler, selbst in der Vielfalt ihrer jeweiligen Charaktere, schaffen es dennoch, der Akademie einen weitgehend homogenen Ansatz zu geben. In dieser Hinsicht spricht man oft von der Carracci- Reform. Mit diesem Ausdruck soll der Wille der drei Bologneser Künstler beschrieben werden,
bestimmte Extreme des Manierismus des späten 16. Jahrhunderts zu überwinden, um sich direkt dem klassischen Stil der großen Meister der Renaissance und dem naturalistischen Kolorismus der Venezianer anzunähern, besonders dem Veroneses, der seinerseits bereits aus dem phantasievollen Repertoire der klassischen Mythologie schöpfte. Die Carracci-Reform wird zum Ausgangspunkt verschiedener hochbarocker Strömungen, vom Akademismus über den barocken Klassizismus hin zum dekorativen Barock. Sie befruchtet ferner das barocke Portrait, das Genrebild und die Groteske und beeinflusst die heroische Landschaft. In der Altarmalerei prägen die Carracci einen neuartigen, durch monumentale Vereinfachung bestimmten Darstellungstypus.

Annibale Carracci – Il Mangiafagioli

Der wichtigste und bekannteste der drei Carracci ist Annibale (1560 – Bologna, 1609 Rom), der sich bedingt durch seine starke bildnerische Fähigkeit sofort an die Spitze der Accademia setzt.

Carracci, Annibale: Un villano a tavola (Il mangiafagioli), 1584-1585, Öl auf Leinwand, 57 x 68 cm, Galleria Colonna, Rom. In: Ausst. Kat.: Annibale Carracci, Milano 2006, S. 109.

Ein aus seiner Jugend stammendes Gemälde Il Mangiafagioli (Der Bohnenesser) von 1583 (57x68cm, Roma – Galleria Colonna) stellt eines der ersten Genrebilder der italienischen Malerei dar. So wird hier keine kultivierte, heilige, historische oder
mythologische Szene dargestellt – die kleine Leinwand zeigt einen Bauern, der gerade eine Schüssel mit Bohnen mit gefräßiger Gier verschlingt. Auf dem Tisch liegt das ärmliche Inventar eines Bauerntischs: rechts ein Tonkrug, ein Glas Wein, ein Messer, ein Teller mit einem Omelette aus Gemüse, Lauch, Brot und mittig die Bohnenschale, Dreh- und Angelpunkt der gesamten Darstellung. In der einfachen Schlichtheit der Szene richtet Annibale seine bildliche Aufmerksamkeit auf den Charakter des Bohnenessers, dessen Isolation auch durch einen dunklen Hintergrund akzentuiert wird, der kaum von dem Fenster mit dem Gitter beleuchtet wird, das auf der linken Seite zu sehen ist.

Die relativ hohe Horizontlinie mit dem nach rechts verschobenen Fluchtpunkt deutet auf eine dezentrale Perspektive hin, die im Widerspruch zur der vollkommenen perspektivischen Parallelität des gedeckten Tisches widerspricht. Die Komposition bindet den Betrachter mit in das Geschehen ein und

evoziert den Anschein, man beobachte die Szene von einem anderen Tisch aus. Der Mann wird in dem Moment eingefangen, als er den Löffel Bohnen mit so viel Gier zum Mund führt, dass er die Brühe zurück in die Schüssel tropft. Seine Augen schauen starr und misstrauisch, sein Mund ist weit geöffnet und seine linke Hand umgreift gierig ein Stück Brot, fast um eine Zugehörigkeit zu demonstrieren. Diese vielen Details zeugen von rohem Realismus und evozieren das Elend des bäuerlichen Lebens. Das Studium des Natürlichen – erstes Ziel der Carracci-Schule – zeigt sich hier in einem scharfsinnigen, ungeschmückten Entwurf, der scharf gegen die spätmanieristische Tradition steht. Auch die Farben wirken matt und erdig, was dazu beiträgt, die Atmosphäre des täglichen Lebens einzufangen und sogar zu steigern, die auch in den folgenden Jahrhunderten zu einem der wichtigsten Leitmotive des Genremalerei werden wird.

Carracci, Annibale: Galleria Farnese, 1598-1600, Fresko, Palazzo Farnese, Rom. In: Toman, Rolf (Hrsg.): Die Kunst des Barock. Köln 2002, S. 378.

Galleria di Palazzo Farnese

Trotz der anregenden Erfahrungen der Accademia und des mit seinem Bruder Agostino errungenen Ruhmes, wird die künstlerische Umgebung in der Emilia bald zu beengend für Annibale, der nach 1595 endgültig nach Rom ziehen wird. In der Hauptstadt verfeinert er sein Wissen über die Klassiker und studiert vor allem die großen vatikanischen Zyklen von Michelangelo und Raffael. Im Auftrag des Kardinals Odoardo Farnese (1573-1626), dem jungen und aufstrebenden Nachkommen einer der
reichsten und mächtigsten Familien Roms, schafft der Künstler um 1596/1597 im camerino des Familienpalastes diverse Fresken mit Herkules- und Ulyssesdarstellungen – im piano nobile gelegen, absolviert hier der Hochprälat sein Privatstudium. Dies wird als die notwendige Voraussetzung für
seine Ausführung des Freskos für die Galleria di Palazzo Farnese (1598-1600) angesehen, das zweifellos der berühmteste und anspruchsvollste Bildzyklus der gesamten künstlerischen Laufbahn Annibales sein wird. Dabei handelt es sich um eine komplexe Szene mythologischer Figuren, deren prinzipielles Thema die Liebe der Götter behandelt. Es wird vermutet, dass das Bildthema des Tonnengewölbes anlässlich der Hochzeit Ranuccio Farneses mit Margherita Aldobrandini, Nichte

Papst Clemens VIII., in Auftrag gegeben wurde. Von Ovids Metamorphosen inspiriert, stellt das zentrale Fresko die Verherrlichung des Brautpaares dar – transformiert in Bacchus und Ariadne.

In der Mitte des Gewölbes sticht in Größe und Bedeutung das große Fresko des Triumphzuges von Bacchus und Ariadne hervor. Während ihres Hochzeitszuges sitzen die beiden Hauptcharaktere auf zwei Kutschen, die von einem Tigerpaar (der goldene Wagen Bacchus) und zwei weißen Widdern (der silberne Wagen Ariadnes) gezogen werden. Umgeben sind sie von einer tanzenden Menge aus Satyrn und Mänaden, die der Tradition nach im Rhythmus der Tamburinen und Hörner tanzen. Auf einem Esel an der Spitze der Karawane erscheint auch Silenos, ein Satyr, der Bacchus besonders ergeben ist und berühmt für seine Weisheit, aber auch für seine außerordentliche Hässlichkeit ist. Schließlich umringen verschiedenartige Putten und Amoretten den Festzug – sie gelten als ein Symbol für Anmut, Fröhlichkeit und Fruchtbarkeit.

Die Schwierigkeit eine solch’ komplexe Dekoration innerhalb eines schmalen Raumes von 20 x 7 m zu platzieren, löst Annibale durch die malerische Schaffung falscher Architektur, sowie eines gemalten, alles einfassenden Goldrahmens. Darüber hinaus erzeugt er auf dem Tonnengewölbe der Galleria die Illusion einer prachtvollen Pinakothek. Mithilfe des Trompe-l’oeil-Verfahrens evoziert und mischt er Materialitäten von Skulptur, Malerei und Architektur: Graue Atlanten in Grisaille erscheinen wie aus Marmor gefertigt; Medaillons ahmen Bronze nach und „quadri riportati“, also falsche gemalte Bilder, die augenscheinlich von Raffael inspiriert sind, scheinen auf dem Gewölbe aufzuliegen. Die Nackten (gli ignudi), die sich unter den Atlanten sitzend zeigen, machen den Einfluss Michelangelos Deckenfreskos in der Sixtinischer Kapelle sichtbar. Ferner evoziert der Bologneser Maler den Eindruck einer räumlichen Offenheit: indem er im Hintergrund seiner quadri riportati den weiten, blauen Himmel darstellt, gewinnt die Galleria trotz ihrer schmalen Maße eine gewisse atmosphärische Großzügigkeit. Diese von Carracci ausgeführte illusorische Darstellung stellt einen wichtigen Bezugspunkt für die gesamte Barockmalerei dar.

Im großen Freskenzyklus des Palazzo Farnese gelingt es Annibale Carracci, die ausbalancierte Komposition einer klassischen Darstellung (im Triumph von Bacchus und Ariadne) mit dem barocken Gefallen an optischen Täuschungen (quadri riportati) und illusorischen Räume (offener Himmel) zusammenzuführen. Um den ganzen Zyklus zu vollenden, werden fast tausend Skizzen und andere vorbereitende Zeichnungen angefertigt, in denen Annibale oft von seinem Bruder Agostino unterstützt wird. Abschließend sei zu erwähnen, dass eine solch’ mythologische Thematik im Palast eines Kardinals nach der Gegenreformation äußerst ungewöhnlich ist und seine Zeitgenossen überrascht hat.

Literatur

Keazor, Henry: Il vero modo. Die Malereireform der Carracci. Gebrüder Mann Verlag, Berlin 2007.
Tietze, Hans: Annibale Carraccis Galerie im Palazzo Farnese und seine römische Werkstätte. In: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien. Band 26, Heft 2, Wien 1906.
Marzik, Irina: Das Bildprogramm der Galleria Farnese in Rom, Frankfurter Forschungen zur Kunst, Bd. 13, Berlin 1986.