Instabilität als Stilelement der Kunst des Barock

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von Charlotte Jestadt

Das Stilelement der Instabilität findet sich in einem der Meisterwerke des Barocks in Rom, la Fontana dei Quattro Fiumi (der Vierströmebrunnen) von Gian Lorenzo Bernini (1598-1680) auf der Piazza Navona.

La Fontana dei Quattro Fiumi von Gian Lorenzo Bernini auf der Piazza Navona in Rom.

Das Wort „Barock“ leitet sich vom portugiesischen barucca ab und bezeichnet eine unregelmäßige Perle. Der Ursprung des Wortes bezieht sich auf die Unsicherheit, die in der Gesellschaft des 17. Jahrhunderts gefühlt wird. Oft wird der Sinnspruch „omnia est vanitas“ (Alles ist eitel/vergänglich) aus dem Prediger 1.2 aus dem Alten Testament verwendet, um den Barock zu umschreiben. D.h. Dinge ändern sich; nichts ist starr. Alles bewegt sich ständig und ist instabil.
In der Antike war die Piazza Navona das Stadion des Domitian, das aus Travertin, Backstein und Mörtel erbaut wurde. Die Piazza hat die Form des Stadions (Rechteck mit zwei Halbkreisen) beibehalten. Während des Mittelalters und der Renaissance wird das Stadion zur Piazza, auf der täglich ein Markt stattfindet. Die heutige Gestalt gibt der Piazza Papst Innozenz X. (Pontifikat 1644-1655) während der Barockzeit. Er verbietet den täglichen Markt und lässt einen Brunnen errichten, um den Platz zu schmücken.

Die Stilepoche des Barock entwickelt sich zwischen der Renaissance und dem Klassizismus. Sie wird oft als Weiterentwicklung der Renaissance angesehen. Die Rolle Roms ist für die Entwicklung der Kunst des Barock bestimmend. Die Monumentalität des Barock prägen die Päpste. Sie benutzten die Kunst, um ihre Macht und die ihrer Familie zu festigen (Nepotismus). Die Barockzeit ist die der Gegenreformation. Martin Luther (1483-1546) reformiert die katholische Kirche und begründet den Protestantismus. 1545 beginnt das Trienter Konzil. Auf der Ebene der Kunst wird 1563 das Dekret der Bilderverehrung verabschiedet, das Regeln zum richtigen Einsatz von Bildern enthält und gleichzeitig die Ablehnung der Bilderverwendung durch einzelne Reformatoren verurteilt.

Für die Katholiken entwickelt sich ein Gefühl der Unsicherheit in dieser Krisenzeit. Dem versuchen die Päpste durch den Ausdruck ihrer Macht in einer monumentalen Kunst entgegenzuwirken. Die Piazza Navona ist hierfür und für den römischen Nepotismus ein perfektes Beispiel. Papst Innozenz X. (Pontifikat 1644-1655) beauftragt Borromini und Bernini, einen Palazzo – Palazzo Pamphlij, ein Mausoleum – Sant’Agnese in Agone und einen monumentalen Brunnen – la Fontana dei Quattro Fiumi- für seine Familie, die Pamphilj, zu entwerfen. Die Piazza Navona soll so der „Platz der Schönheit“ werden. Die Kunst soll die Macht der Päpste reflektieren. Obwohl Monumentalität und opulente Ausstattung im Vordergrund stehen, ist in den Werken dieser Epo-che auch eine bestimmte Art von Instabilität sichtbar.

Die barocke Architektur soll eine dynamische Wirkung erzielen. Das wird dadurch erreicht, dass die eigentliche Architektur, die Skulpturen und die Malerei zusammenwirken. Künstler wie Bernini versuchen eine bildhafte Gesamtwirkung zu schaffen. Er benutzt keine Grundrisse für seine Arbeit, sondern visualisiert den Gesamteindruck. Architektur wird im Hinblick auf die Ausstattung konzi-piert. Die Ornamentik spielt eine zentrale Rolle für die Architektur des Barock.

Die Kunst der Barock versucht, alle Gattungen gleichzeitig zu verwenden und zusammenwirken zu lassen. Es gibt keine feste Trennung zwischen Architektur, Skulptur und Malerei. Die Malerei in Rom wird in der Epoche des Barock durch Michelangelo Merisi da Caravaggio (1571-1610) revolutio-niert. Seine Kunst ist eine Reaktion auf den Manierismus, deren Künstler ein artifizielles Ideal ver-herrlichen. Die Malerei von Caravaggio ist durch Naturalismus gekennzeichnet. Er bringt den Be-trachter näher an die dargestellte Szene. Der Maler benutzt dabei die Blicke der Figuren, um einen realistischen Raumeffekt zu schaffen. Der Betrachter hat das Gefühl, eine dynamische Szene zu beobachten.

Abb. 1

Die drei Figuren auf Die Falschspieler (Abb. 1) von Caravaggio aus dem Jahre 1595 zeigen diesen dynamischen Eindruck. Der Mann im Hintergrund zeigt seinen Komplizen die Karte des Mannes in Schwarz. Er schaut auf die Karten. Der Mann mit dem Rücken zum Betrachter schaut den Mann an, der ihm Hinweise gibt. Er versteckt Karten mit der Hand hinter seinem Rücken. Währenddessen ist der Mann in Schwarz auf seine Karten konzentriert. Die Gesichter sind expressiv und naturalistisch. Die Objekte im Vordergrund sind mit der Szene verbunden. Alle Details spielen eine Rolle in der naturalistischen dynamischen Darstellung.

Abb. 2

Die Gemälde von Caravaggio reflektieren die Wirklichkeit. Seine Selbstdarstellung als Bacchus ist ein Beweis seines naturalistischen Anspruchs. Im Jahre 1593/4 stellt Caravaggio sich selbst mit einem blassen Teint dar (Abb. 2). Dieses Werk schafft Caravaggio, als er krank ist. Der Maler malt sich selbst nicht gesund, sondern wie er sich wirklich an diesem Zeitpunkt fühlt. Caravaggio lehnt die Idealisierung des Manierismus ab und stellt die Realität in seinem Werk dar.

Abb. 3

Das Element der Instabilität findet sich vor allem in der sakralen Malerei von Caravaggio. Er versetzt dort seine Figuren in eine instabile Lage. Auf dem Gemälde Matthäus und der Engel (Abb. 3) aus 1602 aus der Capella Contarelli in der Kirche San Luigi die Francesi in Rom drückt Matthäus seinen ganzen Körper auf einen Hocker, der umfallen wird. Diese Instabilität macht die Szene realistisch und dynamisch. Caravaggio stellt den Evangelisten nicht in einer starren Haltung dar. Matthäus schaut den Engel über seine Schulter an. Caravaggio versetzt die Szene in seine Zeit. So bringt er die Religion in den Alltag zurück.

Instabilität als Stilmittel wird auch deutlich in der Architektur der Piazza Navona sichtbar. Der Architekt und Bildhauer Bernini verwendet in seiner La Fontana dei Quattro Fiumi instabile dynamische Figuren. Der Brunnen wird zwischen 1648 und 1651 gebaut und vom Aquädukt Acqua Vergine gespeist. Brunnen in Rom haben eine lange Geschichte, die schon im 4. Jahrhundert v. Chr. beginnt.

Der Sockel des Brunnens ist aus einem rohen Stein geschnitten und uneben. Dieser Grundstein der Fontana die Quattro erinnert an die Etymologie des Wortes Barock als barucca („unregelmäßiger Stein“). Auf den Sockel steht ein Obelisk. Er bezeichnet die Mittelachse des ehemaligen Stadions der Antike, die spina genannt wird.

Um den Obelisken herum setzt Bernini vier Götter auf den Stein. Diese stellen die Personifizierungen von Flüssen dar, die die vier damaligen bekannten Kontinente repräsentieren: die Donau (Abb. 5) für Europa, der Nil (Abb. 6) für Afrika, der Rio de la Plata (Abb. 4) für Amerika und der Ganges (Abb. 7) für Asien. Alle Figuren sind in einer instabilen dynamischen Position dargestellt. Keine sitzt fest auf dem Sockel. Der Nil scheint abzurutschen und verhüllt sein Gesicht, weil seine Quelle seinerzeit noch unbekannt ist. Die Donau und der Rio de la Plata sind im Fallen dargestellt. Der Ganges hält sich am Felsen fest, als würde er fallen. Bernini stellt den Kampf der Figuren gegen die Schwerkraft dar.

Abb. 4
Abb. 5
Abb. 6
Abb. 7

Literaturverzeichnis

ARTUR, José u. CHAYETTE, Hervé u. DE ROTSCHILD, Philippe : Le vin à travers la peinture, ACR Edition : Paris 1997 (1994).
BERGER, Andrea C.: Das intermediale Gemäldezitat. Zur literarischen Rezeption von Vermeer und Caravaggio, transcript: Bielefeld 2012.
HOFFMANN, Thomas R.: Wie erkenne ich? Die Kunst des Barock, Belser: Stuttgart 2004.
MARDER, Tod A.: Bernini and the art of architecture, Abbeville Press: New York 1998.
RUSSELL, Susan: Sant’Agnese auf der Piazza Navona, in : STRUNCK, Christina (Hrsg.): Rom: Meisterwerke der Baukunt von der Antike bis heute, Imhof: Petersberg 2007, S. 382-388.
STRUNCK, Christina: Das 17. und 18. Jahrhundert – Bauaufgaben, ästhetische Ideale, Stilwandel, in: STRUNCK, Christina (Hrsg.): Rom: Meisterwerke der Baukunt von der Antike bis heute, Imhof: Petersberg 2007, S. 280-300.