(zur Hauptseite der Exkursion Rom 2018)
von Eva Beck
Die Mutterkirche des Jesuitenordens Il Gesù gilt als eine der ersten römischen Kirchen, die dem Stil des Barocks zuzuordnen sind, der von der italienischen Hauptstadt ausging und laut Heinrich Wölfflin von den Meistern der Renaissance selbst initiiert wurde.[1]
Nicht nur die von Giacomo Vignola entworfene Grundrisslösung, die eine Verschmelzung von Longitudinal- und Zentralbau vorsah, sondern insbesondere die von Giacomo della Porta konzipierte Fassade, die 1577 fertiggestellt wurde, markierte den Übergang zwischen Renaissance und Barock und hielt als Typus eine Vorbildfunktion für zahlreiche nicht nur römische sondern auch europäische Sakralbauten – insbesondere Jesuitenkirchen – inne.[2] Wölfflin zieht den Bau als prominentes Beispiel in seinem Werk „Renaissance und Barock“ von 1888 heran, um anhand diesem ebenjenen Stilwandel in Italien detailliert und in zuweilen poetischer Manier zu untersuchen. Da den Barock keine Theorie begleitet wie die Renaissance, sollte auf Basis der Beobachtungen von Wölfflin – aber auch mit kritischem Blick auf jene – die Fassade von Il Gesù von den Exkursionsteilnehmern vor Ort gemeinsam studiert werden, um mit eigenen Worten zu erfassen, worin genau die stilistischen Veränderungen festzumachen seien.
Die barocke Fassade charakterisiert sich laut Wölfflin durch eine Zweigliederung: Ein schmaleres tympanonbekröntes Obergeschoss und ein breiteres Erdgeschoss mit hervorgehobener Portalzone werden durch Voluten miteinander verbunden.[3] Die äußersten Achsen entsprechen bei Il Gesù den Kapellen im Inneren und werden jeweils durch ein korinthisierendes Pilasterpaar gegliedert. Zur Mitte hin gerät die Fassadenstruktur zunehmend in Bewegung, die Staffelung der Pilasterpaare verdichtet sich und mündet in einem von Dreiviertelsäulen flankiertem Hauptportal. In einer derartigen Betonung des Hauptportals wie auch des Fensters im Obergeschoss sieht Wölfflin barocken Charakter.[4] Neben der horizontalen Drängung vermerkt dieser zudem eine Vertikalbewegung in der breiten Mittelachse, welche durch die übereinander angeordneten Giebel in wechselnder Spitz- und Segmentform bedingt wird. Eine Nische mit einer Giebelkonstruktion zu bekrönen und somit „die ganze Kraft der Dekoration nach oben zu werfen“, sieht Wölfflin als eine der entscheidendsten Maßnahmen des barocken Stils.[5] Als wesentliche Merkmale definiert er allgemein den malerischen Charakter der Architektur, bewirkt durch Bewegung, ein belebtes Spiel von Licht und Schatten durch das Vor- und Zurücktreten einzelner Bauteile und freie Linien. Dachte man in der Renaissance noch linear, in Form von gleichmäßiger Reihung einzelner Bauglieder und dem harmonischen Zusammenspiel geschlossener Linien, wurden die einzelnen Bauelemente im Barock rhythmisiert.[6]
Dabei – hierin konnten die Exkursionsteilnehmer Wölfflin nach einer ersten Betrachtung des Baus vor dem Hintergrund des bisher Gesehenen direkt zustimmen – wird das Wesen des neuen Stils nicht durch die Gestaltung der Einzelteile bestimmt, welche bis dato bereits bestehende Formen aufgreift, sondern durch die Komposition dieser zu einem einheitlichen Ganzen. In der Renaissance war laut Wölfflin selbst untergeordneten Bauelementen ein eigenständiger Charakter zugesprochen worden, welcher im Barock zugunsten einer allgemeinen Masse aufgegeben wurde.[7] Auch Symmetrien sollten bei der Fassade von Il Gesù stärker vernachlässigt werden, wie Herr Dr. Schelbert vor Augen führte: Eigentlich wurden die einzelnen Bauelemente in ihrer plastischen Steigerung zur Mitte hin unsymmetrisch angeordnet, erst mit ihrer Spiegelung entlang der Vertikalachse erfährt die Gesamtstruktur eine geschlossene Ordnung. Zugunsten der Gesamtwirkung wurde die Selbstständigkeit dieser Einzelteile entsprechend zurückgestellt. Im Rahmen der Diskussion sollte nochmal hervorgehoben werden, was Wölfflin zuweilen vernachlässigte, nämlich dass das Formenvokabular der Architektur hier keine bisher unbekannten Ergänzungen vorzuweisen hat, sondern lediglich nach einer aktualisierten Grammatik strukturiert wurde, weshalb Herr Dr. Schelbert diesen Bau als Post- Renaissance charakterisierte. Das entscheidende „semantische“ Mittel hierfür sahen die Exkursionsteilnehmer in den ausgeprägten Schichtungen und daraus folgenden Verkröpfungen, die die Fassade erfährt: Neben dem verkröpften Dreiecksgiebel über dem Mittelfenster im Obergeschoss, der zur Betonung der Mittelachse beiträgt, wurde speziell auf die Gesimse hingewiesen, welche das Hervorspringen und Zurückdrängen einzelner Glieder, die ausgeprägte Licht- und Schattenwirkung und die gebrochenen Linien, die Wölfflin als Barock klassifizierte, bewirken. Am prägnantesten veranschaulicht dies das hohe Gebälk der unteren Säulenordnungen, welches im Fries die Bauinschrift enthält und entsprechend vor- und zurücktritt. So sollte festgestellt und festgehalten werden, dass im Falle von Il Gesù ebendieses Element der Verkröpfung maßgeblich zur Charakterisierung des Baus als barock beiträgt und in der weiteren Entwicklung des Stils immer stärker ausgearbeitet werden sollte, wie den Exkursionsteilnehmern anschließend an der Fassade von Sant’Ignazio (1626-1650) deutlich ersichtlich werden konnte.
1. Wölfflin 1888, S. 12.
2. Schlimme 1999, S. 188.
3. Wölfflin 1888, S. 102.
4 Ibid., S. 106.
5 Wölfflin 1888, S. 105.
6 Ibid., S. 28-30.
7 Ibid., S. 109.
Literatur:
Schlimme, Hermann: Die Kirchenfassade in Rom: „reliefierte Kirchenfronten“ 1475-1765, Petersberg/Imhof 1999.
Wölfflin, Heinrich: Renaissance und Barock, München, 1888